Kaiserliches Mainfest
vom 20. September 1865 (R.G.Bl. 88/1865)
 

An Meine Völker !

Die Machtstellung der Monarchie durch eine gemeinsame Behandlung der höchsten Staatsaufgaben zu wahren, und die Einheit des Reiches in der Beachtung der Mannigfaltigkeit seiner Bestandtheile und ihrer geschichtlichen Rechtsentwicklung gesichert zu wissen, - dieß ist der Grundgedanke, welcher in Meinem Diplome vom 20. October 1860 einen Ausdruck fand, und Mich zum Wohle Meiner treuen Unterthanen fortan leiten wird.

Das Recht der Völker, durch ihre legalen Vertretungen bei der Gesetzgebung und Finanzgebarung beschließend mitzuwirken, diese sichere Bürgschaft für die Förderung der Interessen des Reiches wie der Länder, ist feierlich gewährleistet und unwiderruflich festgestellt.

Die Form der Ausübung dieses Rechtes hat das mit Meinem Patente vom 26. Februar 1861 kundgemachte Grundgesetze über die Reichsvertretung bezeichnet, und im sechsten Artikel des gedachten Patentes habe Ich den ganzen Inbegriff der vorausgegangenen, der wieder ins Leben gerufenen und der neu erlassenen Grundgesetze als die Verfassung Meines Reiches verkündet.

Die Belegung dieser Form, die harmonische Gestaltung des Verfassungsbaues in allen seinen Theilen, blieb dem freien Zusammenwirken aller Meiner Völker anheimgegeben.

Nur mit warmer Anerkennung kann Ich der Bereitwilligkeit gedenken, mit welcher durch eine Reihe von Jahren ein großer Theil des Reiches, Meiner Berufung folgend, seine Vertreter in die Reichshauptstadt entsandte, um im Gebiete des Rechtes, der Staats- und Volkswirthschaft hochwichtige Aufgaben zu lösen.

Doch unerfüllt blieb Meine Absicht, die Ich unabänderlich bewahre, den Interessen des Gesammtstaates die sichere Gewähr in einer verfassungsmäßigen Rechtsgestaltung zu bieten, die ihre Kraft und Bedeutung in der freien Theilnahme aller Völker findet.

Ein großer Theil des Reiches, so warm und patriotisch auch dort die Herzen schlagen, hielt sich beharrlich fern von dem gemeinsamen legislativen Wirken, indem er seine Rechtsbedenken durch eine Verschiedenheit der Bestimmungen jener Grundgesetze zu begründen suchte, welche in ihrer Gesammtheit eben die Verfassung des Reiches bilden.

Meine Regentenpflicht verbietet es, Mich länger der Beachtung der Thatsache zu verschließen, welche die Verwirklichung Meiner, der Entwicklung eines freien Verfassungslebens zugewandten Absicht hemmt, und das REcht aller Völker in seiner Grundlage bedroht; denn auch für die Länder, welche nicht zur ungarischen Krone gehören, wurzelt die gemeinsame legislative Berechtigung nur in jenem Boden, welcher im Artikel VI des Patentes vom 26. Februar 1861 als die Verfassung sdes Reiches bezeichnet wird.

In solange die Grundbedingung eines lebensvollen Inbegriffs von Grundgesetzen, der klar erkennbare Einklang seiner Bestandtheile fehlt, ist auch das große und gewiß segensverheißende Werk einer dauernden verfassungsmäßigen Rechtsgestaltung des Reiches nicht zur That geworden.

Um nun Mein kaiserliches Wort lösen zu können, um der Form nicht das Wesen zu opfern, habe Ich beschlossen, zunächst den Weg der Verständigung mit den legalen Vertretern Meiner Völker in den östlichen Theilen des REiches zu betreten, und dem ungarischen, sowie dem croatischen landtage das Diplom vom 20. October 1860 und das mit dem Patente vom 26. Februar 1861 kundgemachte Grundgesetz über die Reichsvertretung zur Annahme vorzulegen.

In Erwägung jedoch, daß es rechtlich unmöglich ist, eine und dieselbe Bestimmung in einem Theile des Reiches zum Gegenstande der Verhandlung zu machen, während sie gleichzeitig in den anderen Theilen als allgemein bindendes Reichsgesetz behandelt würde, - sehe Ich Mich genöthigt, die Wirksamkeit des Gesetzes über die Reichsvertretung mit der ausdrücklichen Erklärung zu sistiren, daß Ich Mir vorbehalte, die Verhandlungsresultate der Vertretungen jener östlichen Königreiche, falls sie eine mit dem einheitlichen Bestande und der Machtstellung des Reiches vereinbare Modification der erwähnten Gesetze in sich schließen würden, vor Meiner Entschließung den legalen Vertretern der anderen Königreiche und Länder vorzulegen, um ihren gleichgewichtigen Ausspruch zu vernehmen und zu würdigen.

Ich kann es nur beklagen, daß dieser unabweislich gebotene Schritt auch einen Stillstand in dem verfassungsmäßigen Wirken des engeren Reichsrathes mit sich bringt, allein der organische Zusammenhang und die gleiche Geltung aller Grundbestimmungen des Gesetzes für die gesammte Thätigkeit des Reichsrathes macht eine Scheidung und theilweise Aufrechterhaltung der Wirksamkeit des Gesetzes unmöglich.

So lange die Reichsvertretung nicht versammelt ist, wird es die Aufgabe Meiner Regierung sein, alle unaufschiebbaren Maßregeln und unter diesen insbesondere jene zu treffen, welche durch das finanzielle und volkswirthschaftliche Interesse des Reiches geboten sind.

Frei ist die Bahn, welche mit Beachtung des legitimen Rechtes zur Verständigung führt, wenn - was Ich mit voller Zuversicht erwarte - ein opferfähiger versöhnlicher Sinne, wenn gereifte Einsicht die Erwägung Meiner treuen Völker leitet, an welche dieses kaiserliche Wort vertrauensvoll gerichtet ist.

    Wien, am 20. September 1865.

Franz Joseph


Quellen: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich Jahrgang 1865 Nr. 88
© 21. Juni 2012
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