Gesetz
vom 25. Juli 1867,
über die Verantwortlichkeit der Minister für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder.

(R.G.Bl. 101/1867)

Mit Zustimmung beider Häuser Meines Reichsrathes finde Ich zu verordnen, wie folgt.

§ 1. Jeder Regierungsact des Kaisers bedarf zu seiner Giltigkeit der Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers.

§ 2. Die Mitglieder des Ministerrathes können vom Reichsrathe zur Verantwortung gezogen werden für alle innerhalb ihres amtlichen Wirkungskreises denselben zur Last fallenden Handlungen und Unterlassungen, wodurch sie vorsätzlich oder grober Fahrlässigkeit die Verfassung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, die Landesordnung eines derselben oder ein anderes Gesetz verletzen.

§ 3. Diese Verantwortlichkeit umfaßt insbesondere:
a) alle in die Zeit ihrer Amtsführung fallenden Acte der obersten Regierungsgewalt, und zwar vorzüglich die auf ihren Antrag erlassenen oder von ihnen gegengezeichneten oder ohne Gegenzeichnung eines Ministers vollzogenen kaiserlichen Anordnungen;
b) ihre eigenen innerhalb ihres amtlichen geschäftskreises erlassenen Weisungen oder Befehle;
c) die absichtliche Unterstützung gröblicher Pflichtverletzung (§ 2) eines andern Ministers.

§ 4. Die mit der selbstständigen Leitung eines Ministeriums betrauten Beamten sind den Ministern in Beziehung auf deren Verantwortlichkeit gleich zu halten.

§ 5. Die Verfolgung wegen der im allgemeinen Strafgesetzbuche verpönten Handlungen oder Unterlassungen, welche einem Minister zur Schuld fallen, steht in der Regel den ordentlichen Gerichten zu (§ 8.)

§ 6. Jeder Minister kann vor den ordentlichen Gerichten auf Ersatz desjenigen Schadens belangt werden, den er durch eine von dem Staatsgerichtshofe als gesetzwidrig erkannte Amtsführung dem Staate oder einem Privaten zugefügt hat.

Diese Klage ist daher in soferne und so lange unzulässig, als wegen der Handlung, wodurch die Verletzung entstanden ist, die Ministeranklage erhoben wurde und fortgesetzt wird.

§ 7. Das Recht zur Anklage steht jedem der beiden Häuser des Reichsrathes zu.

Ein hierauf gerichteter Antrag muß schriftlich überreicht werden, und im Herrenhause von 20, im Abgeordnetenhause von 40 Mitgliedern unterzeichnet sein.

Der Antrag hat die Thatsachen, auf welche er gestützt wird, und die Pflichtverletzung, die Gegenstand der Anklage ist, genau zu bezeichnen.

§ 8.  Jedes der beiden Häuser des Reichsrathes kann auch strafbare Handlungen der Minister, welche unter das allgemeine Strafgesetz fallen, soweit dieselben mit den öffentlichen Functionen des Ministers in Verbindung stehen, zum Gegenstande der Anklage machen.

In diesem Falle wird für dergleichen Handlungen der Staatsgerichtshof (§ 16) allein zuständig, und ist die etwa bei dem ordentlichen Gerichte anhängige Untersuchung an den Staatsgerichtshof abzutreten.

§ 9. Der Präsident des betreffenden Hauses hat binnen acht Tagen nach Ueberreichung des Antrages denselben auf die Tagesordnung zu setzen. Die Verhandlung hat sich darauf zu beschränken, ob das Haus zur Tagesordnung übergehen, oder ob es den Antrag an einen Ausschuß zur Vorberathung verweisen wolle.

§ 10. Der gewählte Ausschuß hat die zur Begründung der Anklage zweckdienlichen Vorerhebungen zu pflegen; er kann Zeugen und Sachverständige, wie auch den Minister, gegen den der Antrag lautet, zur Aufklärung vernehmen, oder von ihm eine schriftliche Rechtfertigung und die zu seiner Vertheidigung dienlichen Urkunden entgegennehmen.

§ 11. Bei der Verhandlung über den vom Ausschusse erstatteten Bericht kann der Minister erscheinen und Aufklärungen geben.

Für die Zulässigkeit der Anklage ist ein Beschluß mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen erforderlich.

§ 12. Beschließt das Haus, den Minister in Anklage zu versetzen, so hat derselbe seine amtliche Wirksamkeit einzustellen.

Der Anklagebeschluß ist mittelst Adresse zur Kenntnis des Kaisers zu bringen.

§ 13. Der Präsident des Hauses, welches die Anklage erhebt, hat den Anklagebeschluß dem Vorsitzenden des Staatsgerichtshof (§ 16) mit der Aufforderung mitzutheilen, die Mitglieder desselben sofort nach Wien zu berufen.

§ 14. Das die Anklage erhebende Haus des Reichsrathes kann bis zum Beginne der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshofe (§ 16) durch eine Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen beschließen, von der Anklage abzustehen.

§ 15. Das Haus, von dem die Anklage ausgegangen ist, hat zur Vertretung der Anklage vor dem Staatsgerichtshofe drei seiner Mitglieder zu bestimmen.

§ 16. Die Verhandlung und Entscheidung über die Anklage erfolgt bei dem Staatsgerichtshofe.

Der Staatsgerichtshof ist in der Art zu bilden, daß jedes der beiden Häuser des Reichsrathes aus den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern zwölf unabhängige und gesetzkundige Staatsbürger, welche jedoch keinem der beiden Häuser des Reichsrathes angehören dürfen, für die Dauer von sechs Jahren als Mitglieder des Staatsgerichtshofes wählt. Die gewählten Mitglieder haben den Vorsitzenden aus ihrer Mitte zu wählen.

§ 17. Wird die von einem der beiden Häuser gegen einen Minister erhobene Anklage an den Staatsgerichtshof geleitet, so hat derselbe aus seiner Mitte zur Instruirung des Processes einen Untersuchungsrichter zu wählen, dem alle Befugnisse zustehen, die im ordentlichen Strafverfahren einem Untersuchungsrichter zukommen.

Dieser kann sohin Zeugen und Sachverständige auch eidlich vernehmen oder die Vernehmung derselben durch das Gericht veranlassen. Beamte sind bei dieser Vernehmung der Pflicht der Amtsverschwiegenheit entbunden.

Die Untersuchung ist längstens binnen sechs Monaten zu Ende zu führen.

§ 18. Erachtet der Untersuchungsrichter die Untersuchung für geschlossen, so ist vom Vorsitzenden des Staatsgerichtshofes der Tag der Hauptverhandlung öffentlich bekannt zu geben, und dem Ankläger sowie dem Angeklagten anzuzeigen.

Jeder Angeklagte hat das Recht, sich einen oder mehrere Vertheidiger zu wählen.

§ 19. Dem Angeklagten - und wenn deren mehrere sind, allen gemeinschaftlich - sowie den Vertretern der Anklage steht das Recht zu, je sechs Mitglieder des Staatsgerichtshofes ohne Angabe der Gründe abzulehnen, jedoch so, daß in der Zahl der übrig gebliebenen Mitglieder die Zahl der von jedem Hause gewählten richter die gleiche sei.

Wird dieses Recht gar nicht oder nicht vollständig ausgeübt, so ist die Auswahl der Richter durch Losung derart zu vermindern, daß eine Gesammtzahl von zwölf Richtern, und zwar die gleiche Zahl der von jedem Hause gewählten Richter übrig bleibt.

Der Vorsitzende kann abgelehnt, aber nicht ausgelost werden. Im ersten Falle wählen die das urtheilende Gericht bildenden Richter den Vorsitzenden aus ihrer Mitte.

§ 20. Die Hauptverhandlung vor dem Staatsgerichtshofe ist öffentlich und mündlich.

Zur Giltigkeit des Urtheiles ist die ununterbrochene Anwesenheit von mindestens zehn Mitgliedern erforderlich.

Die Richter urtheilen nach ihrer Ueberzeugung und sind an keine positiven Beweisvorschriften gebunden.

Der Vorsitzende hat in jedem Falle seine Stimme abzugeben.

Die Abstimmung ist geheim und erfolgt durch Kugeln.

§ 21. Das Urtheil hat unter Angabe der Gründe auszusprechen, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig sei. Im ersten Falle - wozu eine Stimmenmehrheit von mindestens zwei Drittheilen der Stimmen erforderlich ist - sind in dem Urtheile die als erwiesen angenommenen Thatsachen zu bezeichnen und deren Strafbarkeit zu qualificiren.

§ 22. Die Vorschriften der allgemeinen Strafproceßordnung sind von dem Staatsgerichtshofe in soweit zu befolgen, als nach dem gegenwärtigen Gesetze keine Abweichung geboten ist.

§ 23. Die gesetzliche Folge der Verurtheilung ist stets die Entfernung des Verurtheilten aus dem Rathe der Krone; es kann aber nach Beschaffenheit der erschwerdenen Umstände auch auf die Entlassung des Verurtheilten aus dem Staatsdienste und auf den zeitlichen Verlust der politischen Rechte erkannt werden.

Fällt dem Angeklagten auch eine im allgemeinen Strafgesetze vorgesehene Handlung oder Unterlassung zur Last, so hat der Staatsgerichtshof außerdem die Bestimmungen dieses Gesetzes auf ihn anzuwenden.

§ 24. Der Staatsgerichtshof hat auf die Verpflichtung des Verurtheilten zur Ersatzleistung zu erkennen, wenn sowohl der Betrag derselben, als auch die Person, welcher dieselbe gebührt, mit Zuverlässigkeit bestimmt werden kann.

Ist das nicht möglich, so kann das Urtheil die Verpflichtung zur Ersatzleistung aussprechen und die Feststellung des Betrages dem ordentlichen Rechtswege vorzubehalten.

§ 25. Gegen das Urtheil des Staatsgerichtshof ist kein Rechtsmittel zulässig.

§ 26. Das Verfahren über einen zulässig befundenen Anklagebeschluß kann durch die Vertagung oder Schließung des Reichsrathes und selbst durch die Auflösung des Hauses der Abgeordneten nicht gehemmt werden.

§ 27. Die Verfolgung des Ministers vor dem Staatsgerichtshofe hört auf zulässig zu sein, wenn die Anklage in der auf die gesetzwidrige Handlung unmittelbar folgenden, und im Falle, wo diese Handlung erst mittels des Staatsrechnungsabschlusses dem Reichsrathe bekannt wird, in jener Reichsrathssession, in welcher dieser Rechnungsabschluß zur Prüfung gelangt, nicht erhoben worden ist.

§ 28. Das Klagerecht (§ 6) erlischt durch Verjährung nach den Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches.

Die Verjährung wird durch die Verhandlungen über die Ministeranklage unterbrochen.

§ 29. Der Kaiser wird zu Gunsten eines schuldig befundenen Ministers das Recht der Begnadigung nur auf Grund eines hierauf gestellten Antrages des Hauses des Reichsrathes ausüben, von dem die Anklage ausgegangen ist.

§ 30. Die Dienstentsagung des Angeklagten vor Beendigung des Processes ist unstatthaft.

Der Umstand, daß der Minister bereits früher zurückgetreten oder nicht mehr im Staatsdienste angestellt ist, steht der Anklage nicht entgegen.

§ 31. Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tage der Kundmachung in Wirksamkeit.

    Wien, am 25. Juli 1867

Franz Joseph

Freiherr von Beust
Graf Taaffe
Freiherr von John
Freiherr von Becke
Ritter von Hye

Auf Allerhöchste Anordnung
Bernhard Ritter von Meyer

Das vorstehende Gesetz war das österreichische "Ministerverantwortlichkeitsgesetz", das bis 1918 unverändert in Kraft blieb, aber nie angewendet wurde. Ein solches Gesetz fehlte im Deutschen Reich bis 1919 gänzlich.
 


Quellen: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich Nr. 101 aus dem Jahr 1867
Staatsgrundgesetze der österreichischen Monarchie, 3. Auflage 1868, k.k. Hof- und Staatsdruckerei
© 1. Dezember  2002
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